Birte Müller

Sondermodell Willi

Nr 141 | September 2011

Mir ist in letzter Zeit immer häufiger aufgefallen, dass Kinder als «Anschaffung» bezeichnet werden. Eigentlich ein komplett unpassender Ausdruck, der laut Definition einen entgeltlichen Vorgang bezeichnet, bei dem ein Wirtschaftsgut von einem Eigentümer auf einen anderen übergeht. All das trifft zum Glück bei einem Kind nicht zu!
Mein Mann und ich haben unser erstes Kind vor gut vier Jahren «angeschafft». Die Anschaffung unseres Sohnes Willi war vollkommen kostenfrei, wir hatten ihn zwar nicht bestellt, uns über die pünktliche Lieferung zum Stichtag aber gefreut und waren dann einigermaßen überrascht, dass er ein «Sondermodell» war. Eine Bedienungsanleitung lag nicht bei.
Willi hat ein winzig kleines Chromosom mehr in jeder seiner Zellen als die meisten anderen Menschen. Er hat das Down-Syndrom und das West-Syndrom, eine schwere Form der Epilepsie. Seine Augen sind leicht schräg gestellt, sein Mund steht meistens offen und seine Zunge ist zu sehen. Unser Willi kann kein Wort sprechen, er kann sich weder selber aus- noch anziehen, nicht aufs Klo gehen, nicht richtig mit einem Löffel essen, er kann niemals ruhig sitzen oder stehen und er kann sich selten länger als ein paar Sekunden auf etwas konzentrieren.
So würde ein Außenstehender vielleicht meinen Sohn beschreiben. Wir Mütter behinderter Kinder nennen diese Sichtweise «defizit­orientiert», da sie hauptsächlich benennt, was unsere Kinder NICHT können.

Jetzt das ganze Mal aus anderer Sicht: Willi ist ein gesunder, fröhlicher Junge mit wunderschönen Mandelaugen! Er kann ihm bekannte Menschen erkennen, er kann eine ganze Reihe Gegen­stände (besonders Essbares) auf Bildern zeigen und selber mit Gebärden benennen. Willi kann unsere Hand nehmen und uns zum CD-Spieler führen, wenn er Musik hören möchte. Willi kann selber die Mütze absetzen und (leider) den Reißverschluss seines Schneeanzuges öffnen. Willi kann laufen (und macht das auch den ganzen Tag) und Willi hält einen konsequenten Sitzstreik durch, wenn er in die Richtung laufen soll, die ein anderer bestimmt.
Für mich ist das alles normal, auch wenn ich weiß, dass irgendwie nichts von alldem wirklich normal ist. In der Öffentlichkeit fallen wir oft auf. Wir sind lauter, wir sind irgendwie «doller» als die anderen – in jeglicher Beziehung.
Als Willi knapp zwei Jahre alt war, da haben wir uns noch ein Kind «angeschafft». Willis kleine Schwester Olivia. Sie führt uns täglich das Wunder der normalen Entwicklung vor Augen. Auch sie fordert uns als Eltern heraus, aber trotzdem ist die Art der Anstrengung nicht miteinander vergleichbar.
Ich versuche damit aufzuhören, Außenstehenden die emotionale Belastung zu erklären, unter der wir leiden. Zu oft werde ich einfach nicht verstanden oder meine Äußerungen werden als ein Beklagen über unser Leben missgedeutet. Der Satz: «… das hast du aber mit einem normalen Kind auch», macht mich manchmal richtig wütend. Und trotzdem habe ich immer wieder den Wunsch, man möge uns verstehen.
Das Leben mit Willi ist (und bleibt es auch) in jeder Beziehung deutlich mühevoller – und oft sind wir überfordert. Aber unser Leben ist durch Willi auch viel intensiver. Jeden Tag fühle ich, dass wir WIRKLICH leben. Wir haben so unvor­-stellbares Leid erfahren durch Willis Krankheiten und so unendliches Glück durch ein einziges Lachen von ihm! Wir leben irgendwie intensiver, in jeder Hinsicht extremer seither.
Eigentlich müsste mein Sohn also voll im Trend liegen. Viele Menschen sind doch heute auf der Suche nach dem Kitzel des Extremen, nach großen Gefühlen und mehr Individualität. Diesen Menschen kann ich ein Kind mit Down-Syndrom nur ans Herz legen!
Komisch eigentlich, dass die Abtreibungszahlen von Kindern mit Down-Syndrom trotzdem ständig zunehmen. In Deutschland liegt sie bei über 90 Prozent.
Mir scheint, als würden immer mehr Menschen versuchen, ihr Leben so unverbindlich wie möglich zu planen. Kinder sind wohl so ziemlich die einzige «Anschaffung», bei der man sich wirklich festlegen muss. Ein Kind lässt sich nicht so einfach wieder abschaffen, auch wenn der eine oder andere Elterteil (gerne auch die Väter von behinderten Kindern) durch das Verlassen der Familie eben genau das zu tun versucht.
Willi, Olivia und ich haben das Glück, dass wir nicht wieder abgeschafft wurden. Nach den schwierigen Anfangsjahren haben wir nun unsere Normalität neben der Norm allmählich gefunden.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt (www.wolfgang-schmidt-foto.de)

Ich hadere nicht mit unserem Schicksal. Ich denke, Willi ist genau das Kind, das zu uns passt. Und doch taucht in den Gesprächen mit meinem Mann immer wieder die Frage auf, wie unser Leben wohl verlaufen wäre, wenn wir uns damals doch für pränatale Diagnostik und dann für eine Spätabtreibung unseres Kindes entschieden hätten. Vor meinen Augen scheine ich es deutlich zu sehen: Wir wären keine glück­-lichere Familie! Wahrscheinlich wären wir heute gar keine Familie. Hätte ich mir dieses Kind aus dem Leibe reißen lassen, hätte ich einen Teil meines Herzens mit verloren. Ich kann mir kaum vorstellen, dass diese Wunde jemals verheilt wäre. Vielleicht hätte ich die Gegenwart meines Mannes, den ich so liebe, nicht mehr ertragen, weil sie mich immer wieder an diese Verletzung erinnert hätte.
Und wie hätte ich damit umgehen sollen, wenn ich im Park einem kleinen Willi begegnet wäre, der laut schreiend vor Glück hinter ein paar Tauben herjagt? Es wäre der Beweis gewesen, dass das Leben nicht zu Ende ist, wenn man ein behindertes Kind bekommt, sondern eben vielmehr noch einmal neu beginnt.
Und doch muss es sie geben, die Mütter, die mit diesen und noch schlimmeren Ver­letzungen weiter existieren. Auch mein Leben wäre irgendwie weitergegangen.
Ohne Willi wäre es sicher einfacher, aber das würden wir nicht merken. Wir wären nicht glücklicher, im Gegenteil, wir wären so viel ärmer an Liebe. Egal, was Willi die Kranken­kasse kosten mag, er bereichert unsere Gesell­schaft wie jedes Kind um ein Vielfaches mehr. Wir können an ihm lernen, ein besserer Mensch zu sein. Kann es etwas Besseres geben?
Die Unmenschlichkeit unserer Gesellschaft liegt darin, dass wir tatsächlich Methoden entwickelt haben, um nicht normgerechtes Leben zu verifizieren und zu selektieren. Der Mutter wird dann die Entscheidung über Leben und Tod «frei» überlassen.
Eine Mutter, die die Diagnose einer Behinderung ihres Kindes erhält, steht unter Schock. Niemand verbietet ihr, dieses Kind auszutragen, aber es ist auch niemand da, der ihr sagt: «Egal, wie dein Kind ist, es wird auf dieser Welt willkommen sein!» Ganz im Gegenteil. Aus der Möglichkeit der pränatalen Diagnostik hat sich ein Auto­matis­mus entwickelt: Weil es möglich ist, wird es gemacht. Neun von zehn Menschen, die erfahren, dass mein Sohn das Down-Syndrom hat, reagieren mit der Frage: «Habt ihr das denn nicht getestet?»
Den deutschen Gesetzgebern ist dabei kein Vorwurf zu machen. Sie haben es sich wahrlich nicht einfach gemacht bei der Festlegung der Bedingungen, unter denen eine Spätabtreibung stattfinden darf. Das Recht auf Leben des ungeborenen Kindes ist abzuwägen mit dem Recht auf das (seelisch und körperlich unversehrte) Leben der Mutter. Tatsächlich weiß in Deutsch­land heute kaum einer, dass es verboten ist, ein Kind aufgrund seiner Behinderung abzutreiben! Lediglich die Unzumutbarkeit für die Mutter ist die Indikation für einen Schwanger­schafts­abbruch nach der 12.Woche.

Ich möchte nicht in die Abgründe der seelischen Verletzungen der Mütter blicken, die diese Entscheidungen getroffen und die grausame Prozedur einer Spätabtreibung erlebt haben.
Und dann kommen Menschen auf der Straße daher, schauen mein Kind an und fragen mich allen Ernstes: «Warum habt ihr DAS denn nicht testen lassen?» DAS ist doch ein Mensch und dazu noch mein Kind. Und kein Test der Welt hätte seine Behinderung verhindern können.
Von den hehren moralischen Zielen der Politiker, welche die Spätabtreibung erlaubt haben, ist bei den Bürgern offensichtlich nicht viel angekommen.
Viele Frauen gehen in der Schwangerschaft zu diesen «Tests», ohne über die möglichen Ergebnisse und vor allem die daraus zu ziehenden Konsequenzen in irgendeiner Weise informiert worden zu sein. Der Feindiagnostik Ultraschall in der Schwangerschaftsvorsorge ist zu einer Art «3D-Babywatching-Event» geworden. Aber für einen Gendefekt gibt es keine Möglichkeit der «Vorsorge», das Baby kann höchstens «entsorgt» werden!
Es ist genau diese «Warum-habt-ihr-das-denn-nicht-getestet-Einstellung», welche den Müttern (und ja, den Vätern auch) eine Art Eigenverantwortung, ja sogar Schuld an der Behinderung ihres Kindes aufbürdet. Das hart erkämpfe Recht auf eine Abtreibung wird plötzlich zu einer sozialen «Pflicht» zur Abtreibung.
Wer hat die Schuld an der Behinderung meines Sohnes? Niemand!
Schuld ist doch immer etwas Negatives. Schuld entsteht, wenn jemand absichtlich gegen ethische oder gesetzliche Wertvorstellung verstößt. Aber an der Existenz meines Sohnes ist nichts Schlechtes, es ist eine Spielart des Lebens, wie es sie immer gegeben hat – und hoffentlich immer geben wird. Soll dieser Mensch etwa nicht existieren, weil er uns mehr Arbeit macht und mehr Hilfe benötigt? Weil er wahrscheinlich kein Abitur machen kann? Oder weil er im Café anderen Menschen auf die Nerven geht, weil er zu laut ist?
Das alles ist doch lächerlich im Vergleich dazu, dass Willi leben darf!
Es ist wahr, dass ich weniger Zeit zum Vertreiben habe als andere Mütter. Aber immerhin muss ich keine Zeit verlieren auf der Suche nach dem Sinn des Lebens. Der war bei Willi im Lieferumfang enthalten. Finanziell hat sich übrigens die Anschaffung beider Kinder aufgrund der hohen Nebenkosten nicht gelohnt, aber wir haben eine sehr positive Lach- und Liebesbilanz. Diese Kinder sind für mich (auch wenn es pathetisch klingt), jedes auf seine Weise, ein Geschenk. Und schon in der Schwangerschaft habe ich es (diesmal ganz unpathetisch) mit dem Volksmund gehalten, der besagt: «Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul!»
Ja, manchmal bin ich auch traurig, dass Willi nicht die Möglichkeiten hat wie normale Kinder – und mir blutet das Herz, wenn ich sehe, dass man ihn ablehnt, ignoriert oder auslacht. Aber da muss sich doch nicht mein Sohn ändern, sondern eben die anderen!
Ich kann mit Überzeugung sagen, dass es richtig war, diese Sonderbabylieferung, die da vor vier Jahren zu uns kam, einfach anzunehmen und nicht zu viel zu fragen. Oft haben wir seitdem gewitzelt, dass wir ihn nach dem «Fernabnahmegesetz» innerhalb der ersten zwei Wochen bestimmt zurückgegeben hätten, wenn wir ihn nur irgendwie wieder in die Originalverpackung bekommen hätten … Heute könnte uns nichts mehr trennen!